Interview mit Konstantin Semilakovs

geführt von Johannes Schäbel im Herbst 2019

 

 

 

JS: Deine eigenen Sinneswahrnehmungen sind wie die Skrjabins von Synästhesie geprägt. Kannst du beschreiben, welcher Art deine synästhetischen Empfindungen sind und wie sie sich im Laufe deines Lebens entwickelt haben?

 

KS: Es gibt in meiner Wahrnehmung grob gesagt zwei Arten von Synästhesie: Zum einen sind dabei musikalische Klänge – damit meine ich hier auf Instrumenten gespielte Tonhöhen – fest mit Farbempfindungen verknüpft. Bemerkt habe ich das in meiner Kindheit, zunächst beim Erlernen der Noten und Töne am Klavier. Beispielsweise entsprach F-Dur für mich schon immer Kobaltblau und B-Dur Dunkel- oder Weinrot. Manchmal sehe ich zu bestimmten Klängen auch Formen und Strukturen, die aber eher spontan auftreten und weniger fix sind als die Farben. Zum anderen entwickelten sich später komplexere Sinneswahrnehmungen in Wechselwirkung mit verschiedenartigen Harmonien. Am ehesten kann ich diese beschreiben als ein intensives Gefühl, das sich nicht in einzelne Sinneseindrücke zerteilen lässt und mehr einer lebendigen Farbenvielfalt entspricht. Dabei geht es allerdings nicht nur um Farbe, sondern es entsteht eher eine Ganzkörpererfahrung mit rauschhaften Vorstellungen von vibrierenden Farben, die die Klänge in angenehmer Weise erzeugen – eine positive Erregtheit der Sinne, die weniger statisch ist als eine reine Verknüpfung von Tonhöhen und Farben. Aber auch bei den Farben ist es nicht ganz eindeutig: Die Tonhöhe F ist für mich z. B. grundsätzlich ganz klar blau, aber im Kontext mit anderen Tönen kann sich dieses Blau mit anderen Farben mischen oder mal wärmer oder kälter, heller oder dunkler erscheinen.

 Meine Farbempfindungen werden dabei weniger passiv von außen her erzeugt, sondern waren schon immer mehr an meine aktive Konzentration auf einen Klang gebunden. Ein spezifischer Klang, also eine durch konkrete Tonhöhen realisierte Harmonie, erzeugt bestimmte Farbmischungen, aber auch ein einzigartiges Gefühl, das genau von diesem Klang ausgeht. Eine genauere Beschreibung fällt mir schwer, da die Assoziationen oft nicht in der gleichen Weise funktionieren, wenn ich versuche sie bewusst zu beobachten.
Als Kind hielt ich das alles für selbstverständlich und die Erlebnisse damit waren vielfältiger und lebendiger. Seit mir klar wurde, dass nicht jeder synästhetische Empfindungen hat, sind die fixen Zuordnungen, die mir intuitiv und authentisch gegeben waren, ein wenig lockerer geworden und auch weniger intensiv, was ich sehr schade finde. Vielleicht liegt es auch daran, dass solche Empfindungen mit fortschreitendem biologischen Alter weniger stark werden. Das scheint zumindest auch bei anderen Synästheten so zu sein.

 

 

JS: Wie empfindest du den Einfluss deiner eigenen Synästhesie bei der Interpretation bzw. beim Spielen von Skrjabins Werken?

 

 

KS: Ich spiele Skrjabin deshalb so gern, weil meine Sinne bei seiner Musik besonders stark reagieren und meine Farbempfindungen intensiver und vielfältiger sind als bei vielen anderen Musikarten. Außerdem entspricht der dramaturgische Verlauf seiner Musik oft meiner intuitiven Erwartung, während mir seine Person oder der Hintergrund seiner Kompositionen weniger wichtig sind. Die tiefen sinnlich-körperlichen Empfindungen motivieren mich Skrjabins Stücke trotz ihrer technischen Hindernisse und Komplexitäten einzuüben, da andersartige Musik diese weniger stark hervorruft. Erst nachdem ich mich aus diesen Gründen mit seiner Musik vertraut gemacht hatte, fand ich heraus, dass auch Skrjabin viel mit Farbempfindungen zu tun hatte. Das erschien mir dann sehr spannend, weil es mir quasi so vorkam, als hätten meine Empfindungen mich intuitiv zu seiner Musik geführt.
Bevor Skrjabin vor etwa 15 Jahren wichtig für mich wurde, kamen mir meine Synästhesie-Empfindungen auch wenig relevant vor. Mein Lehrer hatte mir damals die 4. Sonate von Skrjabin gegeben, die mir sehr schwer und kompliziert vorkam. Bei einem Meisterkurs hörte ich, wie die 5. Sonate unterrichtet wurde und fand sie richtig toll, weil sie eine wahnsinnig emotionale und sinnliche Empfindung in mir auslöste. Während das Notenbild sehr komplex und mit dem Verstand gemacht wirkte, erschien mir die Musik total natürlich, wie eine intuitive Fantasie. Ich kaufte mir dann einen Notenband mit den späteren Sonaten, die noch komplexer als die vorherigen sind. Aber ich merkte, dass hinter dem scheinbaren Chaos ein gewisses eigensinniges System mit einem künstlerisch genialen Zweck steckt. Ich habe dann begonnen die Sonaten immer mehr zu hören und zu spielen. Bei anderen komplexen Stücken kommt es mir oft vielmehr so vor, dass der Komponist den Zweck verfolgte, komplizierte Musik zu schreiben, während ich bei Skrjabin dieses Gefühl nie hatte.
Wenn ich daran denke, dass Skrjabin zu bestimmten Harmonien andere Farben sah als ich, wirkt das ein wenig entfremdend und enttäuschend, weil die Musik in mir so eine intensive Empfindung erzeugt. Meine persönlichen Farb-Zuordnungen spielen aber für meine Interpretation keine intellektuell greifbare Rolle. Wenn ich einen Akkord hell spiele, weil er mir orange erscheint, dann mache ich das aus einer Intuition heraus, weil es mir völlig klar erscheint. Wenn Skrjabin den gleichen Akkord als Türkis empfand, dann beeinflusst mich das nicht weiter, weil ich mir das Stück als Interpret aneignen muss, um es authentisch aufführen zu können.

 

 

JS: Skrjabin verband mit Tonhöhen bzw. Tonarten neben Farben auch Symbolgehalte und sinnbildliche Assoziationen, die für ihn eine gewisse Verbindlichkeit gehabt zu haben scheinen, also an keine bloß momentan auftretende Gemütsregung gebunden waren. Sind deine Farbempfindungen auch mit darüber hinausgehenden Assoziationen verbunden?

 

 

KS: Nein, begriffliche Assoziationen habe ich überhaupt nicht. Ich vermute, dass Skrjabin diese Dinge nicht wirklich sinnlich so empfunden hat. Sie sind wohl eher Ausdruck seines Wunsches, dass alles einem festen, allumfassenden System unterliegt. Dieser Eindruck betrübt mich ein wenig, weil ich weniger zu so einer Denkweise neige. Wenn man etwa bei seinen Tonart-Zuordnungen im Prometheus sieht, dass er den Farbkreis einfach dem Quintenzirkel nach durchgeht, wirkt das auf mich sehr verstandesmäßig konstruiert.

 

 

JS: Beeinflusst dich Skrjabins egozentrische Selbstinszenierung in der Wahrnehmung seiner Musik oder versuchst du dich eher davon zu lösen und rein musikalisch zu agieren?

 

 

KS: Ich denke, dass monumentale Musik allgemein starke Emotionen in Menschen auslösen kann. Komponisten können beim Erschaffen solcher Musik vielleicht Gefühle von Allmacht in sich erzeugen – das kann ich nachvollziehen. Beim Spielen von Musik empfinde ich solche Gedanken aber als abstoßende Selbstüberschätzung. Ich bin mir nicht so sicher, ob Skrjabin sich selbst wirklich so ernst genommen hat, wie es in der Überlieferung wirkt. Vielleicht ist es für Komponisten manchmal notwendig, sich in philosophische Übertreibungen hineinzusteigern, um den Eigensinn zu stärken und seine künstlerischen Ideen umsetzen zu können. Vor allem auf Skrjabin lässt sich dieser Gedanke gut anwenden, weil seine Musik gemessen an seinem historischen Umfeld sehr avantgardistisch war.
Dass seine Egozentrik nach dem uns bekannten Bild so Überhand genommen hat, sehe ich sehr kritisch. Das kann ich leider auch bei der Interpretation nicht ganz ausblenden und versuche mich daher umsomehr auf die rein musikalische Ebene zu konzentrieren und auf die Reize, die ich darin empfinde. Skrjabins Person würde ich also kritischer hinterfragen, als die Begeisterung, die seine Musik auslöst.

 

 

JS: Ist nicht jede musikalische Erfahrung, die uns zutiefst begeistert einhergehend mit einer über das Materielle hinausgehenden Vorstellung von etwas Höherem, nicht Greifbarem? Wenn es diese Verknüpfung nicht gäbe, könnte man sich dann überhaupt für Kunst motivieren?

 

 

KS: Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, für den keine Vorstellung von etwas Höherem existiert. Ob Musik oder Kunst die Verbindung zwischen uns und diesem Höheren herstellt, habe ich mich nie intellektuell gefragt, aber es erschien mir gewissermaßen immer selbstverständlich. Zu verstehen, wozu wir Kunst brauchen, halte ich für keine wünschenswerte Zielsetzung. Die Begründung der Kunst sollte sein, dass sie durch ihre Existenz offensichtlich wichtig für uns ist. Wenn wir anfangen, diese Begründung zu erforschen, zerstören wir gewissermaßen das, was an ihr so besonders ist.

 

 

JS: Für das Thema Synästhesie und Komponisten, die ihre Farbempfindungen in ihr Schaffen miteinbezogen haben, interessierst du dich mittlerweile auch aus wissenschaftlicher Perspektive. Kannst du die Fragen, die dich dabei beschäftigen, zusammenfassen?

 

 

KS: Als Musiker empfinde ich vieles aus rein künstlerischer Perspektive, war aber andererseits immer schon von wissenschaftlichen Zugangsweisen fasziniert. Ich frage mich, wie synästhetische Empfindungen auf neuronaler Ebene entstehen und ob sich systematische Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten beobachten lassen.
Besondere Bedeutung haben dabei Skrjabin und Messiaen, die beide als Komponisten einen hohen historischen Stellenwert haben und deren Werke stark von ihren Farbempfindungen beeinflusst wurden. Daran gemessen finde ich, dass die Forschung dazu noch nicht weit vorgedrungen ist und hoffe etwas Neues dazu beitragen zu können. Ich hatte schon immer bei Akkorden mit kleiner Septime und großer None sehr starke sinnliche Reaktionen. Als ich dann von ähnlichen Konzepten bei Skrjabin und Messiaen gelesen habe, war das sehr erstaunlich für mich. Erst durch die Beschäftigung mit diesen Komponisten wurde mir der Zusammenhang derartiger Harmonien zur Obertonreihe bewusst. Ich bekam das Gefühl, dass ein in gewissem Maße universeller Zusammenhang zwischen synästhetischen Empfindungen und Obertonstrukturen besteht, was ich jetzt näher untersuchen will.
Jedenfalls bin ich überzeugt, dass an dem Thema Synästhesie noch viel mehr dran ist als die bisherige Forschung zeigt und dass viele Musiker Empfindungen dieser Art haben, auch wenn diese vielleicht nicht immer in gleichem Maße ausgeprägt sein mögen. Vor allem bei professionellen Musikern spielen synästhetische Assoziationen eine sehr große Rolle, vermute ich.

 

 

JS: Akustische, also auf die Obertonreihe beziehbare Harmonien werden oft als konstitutives Element für Skrjabins Klangsprache beschrieben. Wie schätzt du die Bedeutung ein, die sie für seine Werke haben?

 

 

KS: Ich denke, dass das Konzept eine große Rolle spielt, dass man es aber seiner künstlerischen Intuition unterordnen sollte. Ihm kam der Gedanke eben mal wieder sehr gelegen, dass man sein ganzes Schaffen einem einzigen Prinzip unterordnen könne. Aber aus meiner Sicht formt seine Musik oder besser gesagt sein Ausdruckswille diese Harmonien und nicht umgekehrt. Sie sind also nicht das, was die Musik hervorbringt, sondern eher ein Teil ihres Gegenstandes.